Deutscher Bundestag Drucksache 1 1/7329
11. Wahlperiode
05. 06. 90
Sachgebiet 281
Antrag
der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Kleinert (Marburg) und der Fraktion
DIE GRÜNEN
Errichtung einer nationalen Gedenkstätte in Hadamar
für die Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen
Der Bundestag wolle beschließen:
1. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die
Gedenkstätte Hadamar für die Opfer der NS- „Euthanasie
Verbrechen noch im Jahr 1990 in den Rang einer nationalen
Gedenkstätte zu erheben und für eine angemessene und
dauerhafte Finanzierung zu sorgen.
2. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, über
den Bundeshaushalt im Jahr 1990 500 000 DM und in den fol-
genden Jahren jeweils 1 Mio. DM zur Realisierung der unter 1.
genannten Ziele für Sach- und Personalkosten bereitzustellen.
Bonn, den 5. Juni 1990
Kleinert (Marburg)
Hoss, Frau Schoppe, Frau Dr. Vollmer und Fraktion
Begründung
1. Ausmaß der „Euthanasie" -Verbrechen
Im November 1940 wurde die hessische Landesheilanstalt
Hadamar von ihrem Träger, dem Bezirkskommunalverband
Wiesbaden, an die Tötungsorganisation der „Euthanasie “-Zen-
trale in Berlin verpachtet. Damit wurde Hadamar die sechste
und letzte NS- „Euthanasie “-Anstalt (fünf befanden sich auf
dem Gebiet des Deutschen Reiches, eine in Österreich). Im
Winter 1940/41 wurde die Anstalt von Patienten/innen und
Personal geräumt und im Keller die Gaskammer und die zwei
Krematorien installiert. Zwei Seziertische kamen hinzu, auf
denen zu wissenschaftlichen Zwecken den Opfern die Gehirne
entnommen wurden. Von Januar bis August 1941 wurden in
der „Euthanasie “-Anstalt Hadamar über 10 000 Menschen mit
Kohlenmonoxydgas ermordet und verbrannt. Sie kamen über
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sogenannte Zwischenanstalten aus den Gebieten der heutigen
Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland- Pfalz,
Baden- Württemberg und Niedersachsen und wurden angeb-
lich aus kriegswichtigen Gründen aus ihren Stammanstalten
verlegt. Tatsächlich waren die Opfer über eine Meldebogen-
aktion des Reichministeriums des Innern erfaßt und von „ärzt-
lichen Gutachtern'" zum Tode verurteilt worden, da sie länger
als fünf Jahre in Anstaltsverwahrung oder nicht voll arbeits-
fähig waren. Diesem halboffiziellen „Euthanasie "-Programm
der Nationalsozialisten fielen bis August 1941 über 70 000 An-
staltsinsassen zum Opfer, was etwa einem Drittel aller Insassen
der deutschen Heil- und Pflegeanstalten entsprach.
Nach dem Stopp der Gasmorde, die selbst nach NS-Recht
illegal waren, wurden im ganzen Reichsgebiet Anstalten der
sogenannten „wilden Euthanasie" eingerichtet - darin wurden
die Alten, Kranken und Behinderten mit Überdosen von Medi-
kamenten und Hungerkost getötet. Über die Zahl der Opfer
dieser Maßnahme sind keine genauen Daten bekannt, sie geht
wahrscheinlich nochmals in die Hunderttausend. Hadamar
wurde zu einer solchen Anstalt der „wilden Euthanasie", in der
bis März 1945 psychisch und physisch kranke Kinder, Jugend-
liche, Frauen und Männer ermordet wurden. Sie kamen aus
dem gesamten Reichsgebiet. Von den zwischen 1942 und 1945
in der Landesheilanstalt Hadamar auf genommenen 4 817 Kran-
ken verstarben 4422 - die meisten keines natürlichen Todes,
wie spätere Prozesse belegen.
Ab 1943 wurden in der Anstalt auch Kinder mit einem jüdi-
schen Elternteil ermordet, die sich in staatlicher Fürsorgeerzie-
hung befanden. 1944 ließen die Nationalsozialisten tuber-
kulosekranke Zwangsarbeiter/innen und ihre Kinder nach
Hadamar zur Tötung verlegen. Die , ca. 500 ermordeten
Zwangsarbeiter kamen fast alle aus Polen oder der Sowjet-
union. Gegen Kriegsende wurden auch psychisch kranke
Wehrmachtssoldaten und SS- Angehörige nach Hadamar zur
Ermordung verlegt.
2. Geschichte der Gedenkstätte
1953 wurde im Foyer des Psychiatrischen Krankenhauses
Hadamar (damaliges Hauptgebäude) ein Relief zum Gedenken
an die Toten der Jahre 1941 bis 1945 angebracht.
1964 weihte Pastor Martin Niemöller, damals Präsident der
Landeskirche Hessen-Nassau, die Gedenkstätte auf dem An-
staltsfriedhof ein. Die Massengräber der etwa 5 000 Ermordeten
aus den Jahren 1942 bis 1945 wurden in eine große Grabfläche
umgewandelt. Symbolische Grabsteine und eine Stele mit der
Inschrift „Mensch achte den Menschen" wurden zum Geden-
ken an die Opfer der NS- „Euthanasie "-Verbrechen aufgestellt.
1983 erarbeiteten vier Gießener Studenten im Auftrag des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen eine kleine Gedenkaus-
stellung, in der die nationalsozialistischen Verbrechen in Hada-
mar dokumentiert wurden. Die Ausstellung hängt im Keller,
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neben den ehemaligen Mordräumen. Es existieren noch die ca.
14 m^ große gekachelte Gaskammer, die Sockel der Krema-
torien und zwei Seziertische.
1987 beschloß der LWV Hessen, aufgrund des großen Interes-
ses von Schulklassen und Berufsschulklassen (Altenpflege,
Krankenpflege), von im Beruf stehenden Medizinern, Psychia-
tern und Pflegepersonal, aber auch anderer Interessengruppen
und Angehörigen von Opfern, die Gedenkstätte Hadamar zu
vergrößern und die Ausstellung dem neuesten Forschungs-
stand und der Gedenkstättenpädagogik anzupassen.
1990 wird mit der Einweihung der neuen Dauerausstellung im
Herbst und der Einrichtung eines Gedenkraumes der Ausbau
der Gedenkstätte Hadamar durch den Landeswohlfahrtsver-
band Hessen (mit 160 000 DM vom Bundesministerium des
Innern bezuschußt) sein vorläufiges Ende gefunden haben.
3. Jetzige Angebote und zukünftige Aufgaben
Die Gedenkstätte Hadamar wird von einer in der Hauptverwal-
tung in Kassel beschäftigten Historikerin und Pädagogin
betreut und geleitet. Vor Ort wird die pädagogische Betreuung
von Gruppen von ABM-Kräften und Honorarkräften geleistet.
Dies ist ein auf die Dauer nicht haltbarer Zustand, da eine
Sicherung des Angebotes der Gedenkstätte Hadamar gewähr-
leistet sein muß. Der dauernd zunehmende Besucheranstrom
erfordert die Einstellung fester Mitarbeiter/innen und damit
auch Öffnungszeiten an Wochenenden. Die Gedenkstätte
Hadamar ist inzwischen eine Gedenkstätte von nationaler Be-
deutung geworden. Sie ist die einzige Gedenkstätte für die
Opfer der NS- „Euthanasie"' -Verbrechen in der Bundesrepublik
Deutschland und setzt jetzt schon ihre Schwerpunkte in der
historisch-politischen Bildung, der Lehrerfortbildung, der
beruflichen Fort- und Weiterbildung und der Betreuung von
überlebenden Betroffenen und Angehörigen von Opfern. Sie ist
Ort von wissenschaftlichen Tagungen und pädagogischen
Seminaren zu dem Themenkomplex.
Die Gedenkstätte hat überregionale Bedeutung und nationale
Aufgaben zu erfüllen. Diese Dimension übersteigt das Lei-
stungsvermögen des LWV Hessen, der als hessischer Wohl-
fahrtsverband, finanziert von den Kommunen und dem Land
Hessen, die Gedenkstättenarbeit als freiwillige Leistung
betreibt. Hier ist jetzt die Bundesrepublik Deutschland in ihrer
Verantwortung gefordert und sollte dies auch deutlich machen.
Durch die Zumessung des Ranges einer „Nationalen Gedenk-
stätte" an die Gedenkstätte Hadamar könnte ein wichtiger
symbolischer Schritt vollzogen und im Zuge dieser Maßnahme
die finanzielle und personelle Situation der Gedenkstätte
dauerhaft gesichert werden. Die Initiative „Nationale Gedenk-
stätte Hadamar", die von der Landesdirektorin Irmgard Gaert-
ner im Dezember vorigen Jahres ins Leben gerufen wurde, hat
bisher bei vielen Bundestagsabgeordneten, der hessischen
Landesregierung, kommunalen Spitzenverbänden und Wohl-
fahrtsverbänden und Interessenverbänden von NS-Opfern
große Zustimmung gefunden.
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4. Im Gegensatz zu regionalen Gedenkstätten, die entsprechend
landesrechtlicher Kompetenzen geführt werden, besteht auf
der Ebene des Bundes die Möglichkeit - und aus politischen
Gründen die Notwendigkeit -, bei einer nationalen Gedenk-
stätte eine umfassende Finanzierung sicherzustellen, die außer
den Maßnahmen der politischen Bildung auch Forschungs-
tätigkeit sowie für den dauernden Betrieb der Gedenkstätte
Personal- und Sachmittel umfaßt. Da eine Anerkennung als
nationale Gedenkstätte frühestens in der zweiten Jahreshälfte
1990 zu erwarten ist, erscheint eine finanzielle Förderung, die
die Hälfte der sonst zuzuweisenden Mittel umfaßt, ausrei-
chend.
5. Das Bewußtsein über die NS-„Euthanasie"-Verbrechen ist in
der Bundesrepublik Deutschland wenig verankert. Die Opfer
dieser Verbrechen sind selbst innerhalb des Bundesentschädi-
gungsgesetzes praktisch nicht berücksichtigt worden. In einem
führenden Rechtskommentar heißt es dazu:
„Die Tötung Geisteskranker (sog. Euthanasie) ist regelmäßig
keine Verfolgung aus Gründen des § 1 und begründet daher
keinen Anspruch der Hinterbliebenen auf Entschädigung. Hier
kann Härteausgleich gewährt werden, wenn die Hinterbliebe-
nen von dem Getöteten Unterhalt erhalten würden. Dies setzt
voraus, daß die Geisteskrankheit behebbar war und der Getö-
tete durch spätere Erwerbstätigkeit in der Lage gewesen wäre,
seine Hinterbliebenen zu unterhalten. Schon in medizinischer
Hinsicht wird sich dieser Beweis kaum führen lassen. " (Brunn/
Hebenstreit; Bundesentschädigungsgesetz Kommentar, Berlin
1965, S. 418)
Die Tatsache, daß es Überlebende des „Euthanasie "-Mordpro-
gramms gab, wurde lange geleugnet. Leistungen nach dem
Bundesentschädigungsgesetz kommen für diese Betroffenen
immer noch nicht in Betracht, da die Euthanasiemaßnahmen
nicht als „typisches NS-Unrecht" anerkannt wurden. Seit 1988
können die „Euthanasie "-Opfer bzw. ihre Hinterbliebenen Lei-
stungen nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG) im
Rahmen einer Härteregelung erhalten. Wie sehr die Diskrimi-
nierung dieses Personenkreises im Rahmen des Entschädi-
gungsrechts noch vorhanden ist, zeigt die Tatsache, daß laut
Berichten der Bundesregierung bundesweit im Jahr 1988 in
keinem einzigen Fall, im Jahre 1989 in nur drei Fällen laufende
Leistungen (Renten) bewilligt wurden. Es besteht also sowohl
im Rahmen des Entschädigungsrechts wie bei dem Gedenken
an die Taten, Täter und Opfer des NS- „Euthanasie "-Mordpro-
gramms eine besondere Handlungsverpflichtung des Bundes.
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